Corona in der zweiten Welle – was ist anders und warum tun wir uns so schwer?

Auch in der BARMER Interessenvertretung ist eines der aktuellen Themen die Corona-Pandemie. Thomas Auerbach, der auch stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes der AGuM e. V. ist, hat seine Meinung dazu in diesem Beitrag zusammengefasst.

Thomas Auerbach ist Mitglied im Verwaltungsrat der BARMER und stellvertretender Vorsitzender im Verband der Ersatzkassen (vdek)

Im Gegensatz zur ersten Welle im Frühjahr 2020 scheint in der zweiten Welle einiges anders zu laufen. Gingen die Infektionszahlen im Frühjahr sehr rasch durch den Lockdown nach unten, bleibt diese Veränderung in der zweiten Welle aus. Die Zahlen stagnieren bestenfalls, in einigen Regionen gehen Sie sogar drastisch nach oben. Wie kommt das, was ist diesmal anders? Es sind viele Faktoren, die anders sind oder sich geändert haben

Das Wetter ist schlechter. In der ersten Welle liefen wir in ein mildes Frühjahr, das Leben verlagerte sich nach draußen. Das Virus hatte es schwerer neue Wirte zu finden.

Die Kontrolle über das Infektionsgeschehen ist uns entglitten. Im letzten Frühjahr waren Infektionsherde noch weitestgehend auszumachen, Infektionen ließen sich gut nachvollziehen und damit Infektionsketten unterbrechen. Die Corona-App hatte einen guten Start. Aber sie wurde nicht weiterentwickelt. Bis heute ist sie nicht in der Lage zuverlässig zu warnen und Infektionsketten für die Behörden nachvollziehbar zu machen. Stattdessen quälen sich die Gesundheitsämter mit Faxen, statt intelligente Technik nutzen zu können.

Die Angst vor dem Virus hat nachgelassen. Ein ganz wesentlicher Faktor des Erfolges im Frühjahr war, dass die Menschen gehörige Angst vor dem Virus hatten. Die Bilder aus China und Italien waren verstörend und hatten Wirkung. Dass die meisten Menschen in Deutschland die vorgegebenen Corona-Regeln einhielten, war zu einem gehörigen Teil Selbstschutz – die Angst selbst Opfer zu werden. Heute, nach einem milden Sommer und dem „Deutschen-Corona-Wunder“ spielt die individuelle Angst keine entscheidende Rolle mehr.

Wir verlieren nach und nach das Vertrauen ineinander – die Menschen in die Politik und die Politik in die Menschen. Beschränkungen werden zunehmend als unangenehm und unwirksam empfunden. Die klare Linie von Bund und Ländern fehlt. Die Folge, die Akzeptanz der sich stetig ändernden Regel sinkt.

Uns fehlt eine klare Orientierung. Statt beispielsweise mit einem klaren Ampelsystem, wie in Italien, Orientierung zu geben, fehlt in Deutschland ein einfaches, klares und nachvollziehbares System. Am 13. Januar 2021 schwört Bundesgesundheitsminister Jens Spahn uns alle ein: „Wir werden länger Beschränkungen brauchen. In welchem Umfang, werden wir diskutieren. Eins ist offenkundig: Am 1. Februar wird es nicht möglich sein, alle Beschränkungen zu lockern.“ Das wundert. Spahn traut den aktuellen Maßnahmen offenbar nicht zu, innerhalb 18 Tagen Wirkung zu entfalten. Das heißt, aus seiner Sicht sind die Maßnahmen schon jetzt unzureichend oder sie werden schlicht nicht genügend befolgt.

Uns fehlen die Bereitschaft und die Disziplin, mit einem harten, aber kurzen Lockdown Wirkung zu entfalten. Die gute Gelegenheit dafür war zwischen Weihnachten und Neujahr, wir haben sie aber nicht genutzt. Stattdessen diskutieren wir immer noch mehr über Lockerungen als über die mangelnde Bereitschaft dem Virus mit Konsequenz den Kampf anzusagen. Dabei wäre manches so einfach.

Hygieneregeln sind gut, wenn man Sie nicht einhält aber für die Katz. Wer mit offenen Augen durch die Welt läuft, findet dafür Beispiele am laufenden Band. In den Werkhallen der Industriebetriebe wird mit hohem Aufwand Schutz betrieben, spätestens in der Raucherpause aber steht man dicht beieinander und lässt die Masken fallen. Vor der Zulassungsstelle meiner Heimatstadt stehen die Menschen dicht gedrängt Schlange, weil man die Zulassungstermine immer noch händisch statt durchgehend online vergibt. Und statt beliebigem Mund-Nase-Schutz ist der verpflichtende Umstieg auf wirksamere FFP-2-Masken auch noch in weiter Ferne. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Eine ernsthafte, spürbare Bestrafung von Fehlverhalten fehlt. Ob Hygieneregeln oder Ausgangssperre. Zuwiderhandlungen werden nach meiner Wahrnehmung meist nur mit Ermahnungen, aber nicht mit Bußgeldern geahndet. Oder mann/frau hat die passende Ausrede parat, warum man nach 20 Uhr noch unterwegs ist. Warum auch nicht, die Kontrolle ist ohnehin faktisch nahezu unmöglich.

Das Virus wird vielfältiger und ansteckender. Mutationen des Virus, wie beispielsweise die aus Großbritannien und Südafrika stammenden Veränderungen, verschärfen das Infektionsgeschehen. Zum Glück scheint dies aktuell kein Einfluss auf die Wirksamkeit der Impfstoffe zu haben. Aber niemand weiß, ob das auch auf Dauer so bleibt. Hinzu kommt, dass wir nicht wissen, ob wir trotz Impfung weiter infektiös bleiben werden.

Was also tun? Meine Bestandsaufnahme gibt darauf Hinweise: klare, einfache Regeln. Konsequente Bußgelder und Kontrollen. Und vor allem mehr Selbstdisziplin. Aber genau diese lässt sich nicht verordnen. Aufklärung kann dabei aber durchaus helfen – zum Beispiel bei der Frage, wieviel Öffnung wir zulassen können.

Kritischer Faktor ist die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und die Verantwortung jedes Einzelnen

Nicht die Anzahl der Betten, sondern vor allem die Personalressourcen sind der limitierende Faktor in unseren Krankenhäusern. Diese Ressourcen sind begrenzt und können auch nur begrenzte Zeit am Limit gefahren werden. Auf den Intensivstationen werden nicht nur COVID-Patienten, sondern auch Unfallopfer, Infarkt‑, Schlaganfall- oder Tumorpatientenpatienten behandelt. Noch konkurrieren diese Patienten in der Gesamtschau nicht miteinander. Aber wie lange noch?

Wenn wir über Öffnungen – in welchem Bereich auch immer – nachdenken ‚nehmen wir immer eine Erhöhung der Infektionszahlen in Kauf. Inzidenz und Kontakte sind kommunizierende Röhren. Wenn wir über eine Öffnung nachdenken, dann stellt sich also die Frage, welchen Effekt das auf die Infektionszahlen und schwerwiegenden Erkrankungen haben wird. Keiner kann das verlässlich vorhersagen. Unterschätzt man die Gefahr, bekommt man die „Quittung“ zeitverzögert, ohne dann im kritischen Faktor Intensivmedizin noch zeitnah nachsteuern zu können.

Klar ist auf jeden Fall, je mehr und je länger wir versuchen, uns gerade so an der Grenze der Leistungsfähigkeit zu bewegen, desto länger bleiben wir im Lockdown, desto mehr überfordern wir mit jeder weiteren Woche auch das medizinische und pflegerische Personal, das schon seit Monaten im Ausnahmemodus arbeitet.

Aus meiner Sicht wäre ein massiver, aber dann auch kürzerer Lockdown das geeignetste Mittel (gewesen), um rasch Wirkung zu erzielen. Aber dafür scheint leider sehr Vielen die Disziplin zu fehlen und der Politik die Bereitschaft, entsprechende Maßnahmen wirklich konsequent durchzusetzen.

Also werden wir im besten Falle noch einige Monate im Lockdown light bleiben. Die Wahrscheinlich ist jedoch groß, dass uns in einiger Zeit ähnliche Bilder wie aktuell in London drohen. Wie wir dann rückwirkend über Schulöffnungen, aber auch unser privates Ski- und Rodelvergnügen denken, darauf bin ich gespannt.

Eines ist klar: wir alle zusammen haben es in der Hand, ob es so weit kommt. Die Summe dessen, wie sich jeder von uns in seinem Verantwortungsbereich verhält, entscheidet darüber, ob und wie wir diese Pandemie überwinden. Der beste Zeitpunkt konsequenter zu sein, war gestern. Der zweitbeste ist heute.



Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Mitgliedergemeinschaften der Ersatzkassen e.V.

© 2024 AGuM

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